Mittwoch, 13. Mai. 20, 14:02 Uhr
Literaturhaus Basel «Es ist später als Du denkst»
Inschrift auf einem Marmorstein
in Laas, Südtirol
Am
Morgen macht Mutter Gymnastik im Bett. Ihr Bewegungsradius hat sich
eingeschränkt, sie kreist ihre Hände, bewegt ihren Kopf auf dem Kissen
hin und her, versucht ihre Beine anzuziehen. Seit jeher war sie darum
bemüht, ihre Gelenkigkeit zu erhalten und nicht alle Wehwehchen der
Medizin zu überlassen. Inzwischen merke ich selbst, wie sich mein Körper
verändert, wie gewohnte Bewegungen sich eckiger anfühlen, die Knie oder
die Hüften nicht mehr auf Anhieb den geschmeidigen Ablauf garantieren.
Noch im letzten Sommer hatte ich die ersten äusserlichen Anzeichen des
Älterwerdens nicht so ernst genommen, bis ich eines Abends über die
trockene Haut meiner Unterarme strich, die unregelmässig verteilten
kleinen braunen Flecken wahrnahm und an die Altersmale der ehemaligen
Nachbarin aus dem Unterstock denken musste. Als Kind hatte mich
beeindruckt, wenn ihre bräunlich gesprenkelte Hand, von der ich kaum
meinen Blick losreissen konnte, beim Viererschnapsen, zu dem Mutter
gelegentlich eingeladen war, die Karten hielt. Es ist der schleichende
Verlust des prallen Lebens, auf den man sich nicht vorbereiten kann,
weil alles, was darüber erzählt wird, nicht aus dem eigenen Erleben
kommt.