Montag, 11. Mai. 20, 12:05 Uhr
Literaturhaus BaselGEHÖREN WIR DORTHIN, WOHIN WIR ZURÜCKKEHREN,
ODER NUR DORTHIN, WO WIR STERBEN?
Ich fürchte keine Entfernungen,
ihre Nähe macht mir Angst.
Das
Zuhause ist ein psychologisches Bauwerk; Angst davor, nicht
dazuzugehören; Glaube an die Rückkehr, die den Tod aufschiebt; Heimstatt
der Sicherheit. Selbst die sterilsten Hotelzimmer erwarten dich mit
einem brennenden Kaminfeuer auf dem Fernsehschirm, um dir zu versichern,
dass du hierher gehörst, zu den hässlichen Bildern an der Wand und den
aufdringlichen Lufterfrischern. Heute nennt man das Zuhausebleiben
Isolation, nicht mehr Zugehörigkeit. Im Gegenteil, das mythische
Sich-Umdrehen, durch das geliebte Menschen getötet oder versteinert
werden, das Sich-Umdrehen zu einem Zuhause, das man verlässt, macht das
Zuhause in Zeiten der Erinnerung nur noch lebendiger. Ich lebe das
Zuhause schon seit längerem als dynamische Wirklichkeit, wie ein Baum,
der seine Wurzeln in die Luft reckt. In Paris war mein Zuhause der
Gebäudekomplex «Les Récollets», einst ein Rekollektenkloster, später
umgebaut zu einem Militärkrankenhaus - ein Raum, der durch die Zeiten
den Widerstreit zwischen der Stille der Mönche und den Schreien
verwundeter Soldaten konserviert hat. Im verführerischen Berlin wohnte
ich nahe der Praxis von Gottfried Benn, wo die Metallspitzen auf den
Fenstersimsen die Tauben dazu zwangen, weiterzufliegen wie Nomaden, die
bereits vergessen haben, was sie zurückliessen und wo sie landen werden.
Nomaden glauben nicht an Monumente, auch wenn meine
Flüchtlingsvorfahren die Schlüssel jedes verlorenen Zuhauses
aufbewahrten, und zwar in der Arzneimittelschublade, als Symbol für die
Fortsetzung des Lebens und den Glauben, dass sie eines Tages an den
Anfang zurückkehren werden. Immer öfter ist das Zuhause ein Ort, der
einen verlässt, weil wir uns so sehr an Ortsveränderungen unseres
Körpers gewöhnt haben, dass wir aufhören, das Reisen als ein Verlassen
zu empfinden, sondern nur noch als einen Ortswechsel, auch wenn ich
manchmal das Gefühl habe, dass jedes verlassene Zuhause mir wie ein
hungriges Tier folgt. Nur in der Poesie kann ich zu Hause sein, nur im
Zweifel kann ich sicher sein. Die Literatur begann mit der Poesie: «Das
Lied des Nomaden geht dem Schreiben des Siedlers voraus», schreibt
Brodsky. Bevor ich verreise, öffne ich meinen Koffer schnell, und mein
Schatten ist schon eingepackt, wartet auf die Bücher und
Kleidungsstücke. Wenn ich zurückkehre, öffne ich ihn langsam, so wie man
einen versiegelten Sarg eines im Krieg Gefallenen öffnet. Als wollte
ich die Flucht fortsetzen, die Zugehörigkeit und die erneute Geburt
aufschieben, diesmal ohne Zeugen.