#Nikola Madzirov #2020 #Mai #Literaturhaus Basel

Montag, 11. Mai. 20, 12:05 Uhr

Literaturhaus Basel
«home delivery» liefert Ihnen ab sofort in unregelmässigen Abständen Texte frei ins Haus: Damit wir den Kontakt zu unseren früheren und zukünftigen Gästen trotz Covid-19-Isolation nicht verlieren und damit Sie, liebes Publikum, trotzdem aus erster Hand erfahren, was die Schriftsteller*innen zu sagen haben, haben wir einige von ihnen gebeten, etwas für Sie zu schreiben. Das Thema ist offen, die Autor*innen haben carte blanche. Ausserdem weisen wir mit kurzen Ausschnitten auf Bücher hin, die im Literaturhaus hätten vorgestellt werden sollen.

GEHÖREN WIR DORTHIN, WOHIN WIR ZURÜCKKEHREN,
ODER NUR DORTHIN, WO WIR STERBEN?

Ich fürchte keine Entfernungen,
ihre Nähe macht mir Angst.


Das Zuhause ist ein psychologisches Bauwerk; Angst davor, nicht dazuzugehören; Glaube an die Rückkehr, die den Tod aufschiebt; Heimstatt der Sicherheit. Selbst die sterilsten Hotelzimmer erwarten dich mit einem brennenden Kaminfeuer auf dem Fernsehschirm, um dir zu versichern, dass du hierher gehörst, zu den hässlichen Bildern an der Wand und den aufdringlichen Lufterfrischern. Heute nennt man das Zuhausebleiben Isolation, nicht mehr Zugehörigkeit. Im Gegenteil, das mythische Sich-Umdrehen, durch das geliebte Menschen getötet oder versteinert werden, das Sich-Umdrehen zu einem Zuhause, das man verlässt, macht das Zuhause in Zeiten der Erinnerung nur noch lebendiger. Ich lebe das Zuhause schon seit längerem als dynamische Wirklichkeit, wie ein Baum, der seine Wurzeln in die Luft reckt. In Paris war mein Zuhause der Gebäudekomplex «Les Récollets», einst ein Rekollektenkloster, später umgebaut zu einem Militärkrankenhaus - ein Raum, der durch die Zeiten den Widerstreit zwischen der Stille der Mönche und den Schreien verwundeter Soldaten konserviert hat. Im verführerischen Berlin wohnte ich nahe der Praxis von Gottfried Benn, wo die Metallspitzen auf den Fenstersimsen die Tauben dazu zwangen, weiterzufliegen wie Nomaden, die bereits vergessen haben, was sie zurückliessen und wo sie landen werden. Nomaden glauben nicht an Monumente, auch wenn meine Flüchtlingsvorfahren die Schlüssel jedes verlorenen Zuhauses aufbewahrten, und zwar in der Arzneimittelschublade, als Symbol für die Fortsetzung des Lebens und den Glauben, dass sie eines Tages an den Anfang zurückkehren werden. Immer öfter ist das Zuhause ein Ort, der einen verlässt, weil wir uns so sehr an Ortsveränderungen unseres Körpers gewöhnt haben, dass wir aufhören, das Reisen als ein Verlassen zu empfinden, sondern nur noch als einen Ortswechsel, auch wenn ich manchmal das Gefühl habe, dass jedes verlassene Zuhause mir wie ein hungriges Tier folgt. Nur in der Poesie kann ich zu Hause sein, nur im Zweifel kann ich sicher sein. Die Literatur begann mit der Poesie: «Das Lied des Nomaden geht dem Schreiben des Siedlers voraus», schreibt Brodsky. Bevor ich verreise, öffne ich meinen Koffer schnell, und mein Schatten ist schon eingepackt, wartet auf die Bücher und Kleidungsstücke. Wenn ich zurückkehre, öffne ich ihn langsam, so wie man einen versiegelten Sarg eines im Krieg Gefallenen öffnet. Als wollte ich die Flucht fortsetzen, die Zugehörigkeit und die erneute Geburt aufschieben, diesmal ohne Zeugen.