#Sandra Hughes #2020 #Mai #Literaturhaus Basel

Donnerstag, 7. Mai. 20, 11:02 Uhr

Literaturhaus Basel
«home delivery» liefert Ihnen ab sofort in unregelmässigen Abständen Texte frei ins Haus: Damit wir den Kontakt zu unseren früheren und zukünftigen Gästen trotz Covid-19-Isolation nicht verlieren und damit Sie, liebes Publikum, trotzdem aus erster Hand erfahren, was die Schriftsteller*innen zu sagen haben, haben wir einige von ihnen gebeten, etwas für Sie zu schreiben. Das Thema ist offen, die Autor*innen haben carte blanche. Ausserdem weisen wir mit kurzen Ausschnitten auf Bücher hin, die im Literaturhaus hätten vorgestellt werden sollen.


Noch war es in Merides Gassen angenehm kühl. Ein paar Bewohnerinnen und Bewohner nutzten den Morgen für einen frühen Spaziergang. Sie humpelten am Stock die enge Hauptstrasse entlang, hielten einen Schwatz auf der Piazza Mastri. Andere gingen zielstrebig ihrem Tagwerk nach, so auch der alte Savelli. Wie immer war er der Erste, der die kleine Spaghettifabrik an der Via Ercole Doninelli 7 betrat. Sie lag neben seinem Haus am östlichen Ende des Dorfes. Von da an zogen sich Reben am sanften Hang entlang, führte die kunstvoll gepflasterte Strasse zur Cappella del Beato Manfredo, die nach einem Adligen aus Mailand benannt war, der vor 800 Jahren hier auf dem Tessiner Berg gelebt hatte. Aber für selige Einsiedler hatte der alte Savelli keinen Blick. Er wollte, wie jeden Tag, «ein wenig nach dem Rechten sehen», wie er sagte, das Rührwerk mit einem feuchten Lappen reinigen, danach den Teig ansetzen. Er richtete die Säcke mit Hartweizengriess in einer Linie aus, setzte im engen Büroraum den Ventilator in Gang, damit die Hitze des Julitages gar nicht erst eindringen konnte. Ging die Gestelle im Trockenraum durch, die mit goldenen Spaghettischnüren behangen waren, wedelte sie sanft ein wenig durch. Wechselte in den Kühlraum hinüber. Er öffnete die Tür, betätigte den Lichtschalter, blinzelte, als es neongrell aufblitzte. Dann sah er sie, die Gestalt am Boden. Die Haare büschelweise auf den blanken Fliesen. Antonio schrie, so laut er konnte, mit seinen 82 Jahren und einer Lunge, die von zehn Brissago originale täglich geteert war.